„Alles Psyche oder was?“

Die bio-psycho-sozialen Hintergründe von Schmerz

bear-Bild von Gerd Altmann auf Pixabay
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Wenn Menschen über lang anhaltende Schmerzen berichten, kann es hilfreich sein, sich ein Bild von ihrer Lebenssituation zu machen, denn „Körper-Geist-Seele“ sind eng miteinander verwoben. Dies muss dem Betroffenen selbst nicht bewusst sein. So konnten für folgende Patienten erst dann Lösungswege gefunden werden, als ihnen während der psychologischen Gespräche diese Zusammenhänge bewusst wurden - der Fachmann spricht hier vom „bio-psycho-sozialen Schmerz“  (s. Abb. 1).

Abb. 1 ( © J. Korb  AK-Patienteninformation  Deutsche Schmerzgesellschaft)
Abb. 1 ( © J. Korb AK-Patienteninformation Deutsche Schmerzgesellschaft)

 

Bei einer Patientin traten die Schmerzen zeitgleich mit Mobbing am Arbeitsplatz auf, dem sie sich hilflos ausgesetzt fühlte; einem Patienten wurde klar, dass sich seine Schmerzen während der Zeit seiner Scheidung und einem ihm verweigerten beruflichen Aufstieg verstärkten und einer berufstätigen Ehefrau wurde bewusst, dass ihre „unerklärlichen“ Rückenschmerzen in jener Zeit entstanden, in der ihr Ehemann frühpensioniert wurde und „unglücklich, gereizt und ziellos“ zu Hause herumhing, was sie wütend und hilflos machte.

Diese Schmerzkranken hatten auf den Rat ihres Arztes, auch psycho-soziale Hintergründe mit einzubeziehen, zunächst empört mit der Frage reagiert: „Meinen Sie jetzt auch, dass ich mir die Schmerzen nur einbilde?“. 

 

Wie viel „Psycho“ steckt nun im Schmerz?

Das hängt zunächst davon ab, ob es sich um einen akuten oder chronischen Schmerz handelt. Grundsätzlich gilt, dass Aufmerksamkeit, innere Einstellungen und Gefühle unser Schmerzempfinden, egal ob bei akuten oder chronischen Schmerzen, verstärken oder schwächen. Jeder hat mal ein Kind stürzen sehen, das weinend und schmerzerfüllt zur Mutter läuft. Wenn es dann zum Trost ein Eis auswählen darf, kann es sein, dass es kurz aufhört zu weinen, bevor es den Schmerz wieder stärker empfindet. Die Ablenkung kann sogar so stark sein kann, dass wir den vorhandenen Schmerz zeitweise nicht wahrnehmen.

 

Wichtig !

Aufmerksamkeit, Gedanken und Gefühle können unser Schmerzempfinden auch bei akuten Schmerzen verstärken oder schwächen. 

 

Wie Gedanken und Gefühle unserer Schmerzempfinden beeinflussen, zeigt auch das Beispiel einer brustamputierten Frau: Die ärztliche Zusicherung, dass ihre ertragbaren Schmerzen kein Zeichen einer erneuten Krebserkrankung seien, beruhigte sie nicht. Sie sah ihren Schmerz aber als Zeichen einer wiederkehrenden Erkrankung und reagierte mit angstvoller Aufmerksamkeit, was ihr Schmerzempfinden verstärkte. 

 

Bedeutsamer sind psycho-soziale Einflüsse beim chronischen Schmerz. Meist sind Betroffene überzeugt, dass etwas im Körper „kaputt“ sein müsste. Der Arzt soll dann den körperlichen Schaden finden. Wenn aber keine Schädigung festgestellt werden kann, macht sich der Schmerzkranke schnell die Sorge, dass man ihm nicht glauben könnte. Es gibt aber neben körperlichen Ursachen weitere wichtige Faktoren für die Entstehung lang anhaltender, heftigster Schmerzen.

Die häufigste Ursache, da sind sich die Experten einig, ist eine Kombination aus

langanhaltenden körperlichen, psychischen und sozialen Belastungen (bio-psycho-sozialer Dauerstress). 

 

Erhöhte Stressbereitschaft - ein begünstigender Faktor bei Schmerz

Im Gehirn gibt es eine „Stress-Alarmanlage“. Wenn sie ausgelöst wird und Stresshormone freisetzt, sorgt sie u.a. dafür, dass körperliche Empfindungen wie Schmerzen, Verspannungen, aber auch Gefühle zeitweise stark gedämpft oder völlig unterdrückt werden. Menschen bemerken plötzlich Blutspuren oder blaue Flecken und fragen sich, woher diese kommen, oder die Angstreaktion zeigt sich Tage später. Die „Stress-Alarmanlage“ hat bei der Geburt eine „Grundeinstellung“, d.h., sie wird in der Regel nur in (lebens-) bedrohlichen Situationen eingeschaltet. Gab es aber in den frühen Lebensjahren belastende Erlebnisse wie beispielsweise Unfälle, Krankheiten oder körperliche, soziale und psychische Übergriffe/Überforderungen, so kann dies die Reaktionsbereitschaft der „Stress-Alarmanlage“ lebenslang erhöhen. Diese Tatsache wird bei der Suche nach Ursachen oft vernachlässigt – auch vom Patienten selbst.

Die folgende Aussage einer Patienten ist dann typisch: „Meine Mutter starb, als ich sechs Jahre alt war. Davon habe ich nicht viel mitbekommen. Aber jetzt, wo meine Schwester starb, war es viel schlimmer.“ Die Vorstellung, dass positive oder negative Erlebnisse aus der Vergangenheit keine Auswirkungen mehr auf unser heutiges Erleben haben, trifft nicht zu. Das Gegenteil ist der Fall. Wenn jemand als Kind beinahe ertrunken ist, so meiden viele heute noch das Wasser.

 

Eine hohe Stressbereitschaft kann oft auf belastende Erlebnisse in Kindheit und früher Jugend zurückgeführt werden. 

 

Für den Menschen verwirrend ist, dass die körperlichen Folgen von Stress oft erst wahrgenommen werden, wenn der Mensch zur Ruhe kommt. Häufig treten diese stressbedingten, zumeist körperlichen Beschwerden verzögert nach Todesfällen in der Familie, langen und schwerwiegenden Konflikten in Ehe und Familie, nach Über- oder Unterforderungen am Arbeitsplatz und bei Mehrfachbelastungen durch eine Berufstätigkeit mit gleichzeitiger Verantwortung für Kinder, Haushalt und nahe Angehörige auf. Es muss also kein einzelnes Lebensdrama vorausgegangen sein.

 

 

Wie wird aus Stress Schmerz?

Nicht jeder Stress macht krank. Stress macht aber immer dann krank, wenn mehr Stress in das „Fass hineinläuft als unten ablaufen“ kann. Betroffene sagen dann: „Mir steht es bis zum Hals“ (s. Abb. 2).

Das Fass der Spannung
Abb.: 2 (© Hans-Günter Nobis)

Dies gilt auch, wenn sich der Stress aus positiven und negativen Belastungen zusammensetzt. 

Ausgangssituation: Nach einer Phase langanhaltender Überbelastungen wird die  „Stress-Alarmanlage“ ausgelöst. Automatisch spannen sich u.a. alle Muskeln an, was häufig nicht wahrgenommen wird. Hält diese Anspannung länger an, so verkürzen, verkleben und verhärten sich die Muskeln, was sich auch auf Sehnen, Bindegewebe und Knochenhaut auswirkt. Der Mensch fühlt sich verspannt und schneller erschöpft. Diese Art der fortschreitenden Erschöpfung hat auch mit der andauernden Anspannung der Muskulatur zu tun, die sich nicht mehr richtig „erholen“ kann. Messungen zeigten, dass bei einem entspannten Menschen beim Händeschütteln ca. 60 Muskelabschnitte „arbeiten“. Bei Menschen, die verspannt und im Stress sind, wird dagegen ein Vielfaches an Muskeln gleichzeitig aktiviert. Diese Überaktivierung und Daueranspannung, besonders der tiefen Muskulatur, findet sich bei allen anderen Aktivitäten und im Ruhezustand wieder, was zu einem erhöhten Energieverbrauch führt. Im späteren Verlauf können erste Schmerzen, zumeist an den Muskeln, Sehnenansätzen oder der Knochenhaut auftreten, denn, wie oben beschrieben, verändert die dauernd anspannte Muskulatur auch das umliegende Gewebe. Es kommt Mikroentzündungen, die im Blut nicht nachweisbar sind. Man spricht von einem  „Weichteilschmerz“ (s. Abb. 3)

Die Bio-Psycho-Soziale "Muskelspannung"
Abb.3 : (© Hans-Günter Nobis)

Wie wird aus Schmerz chronischer Schmerz?

Schmerzen erhöhen die bestehende Muskelverspannung zusätzlich. Die Folge: Die Bewegungseinschränkungen werden größer, die Erschöpfbarkeit nimmt weiter zu und die Schmerzintensität steigt. Einschränkungen im täglichen Leben verursachen Ärger, Angst, Mutlosigkeit oder „heldenhaftes“ Durchhalten. Diese Gefühlsstimmungen können den „inneren Stress“ verstärken. Es droht ein sich ständig selbst verstärkender „Teufelskreis“. In dieser Übergangsphase wird aus dem Akut-Schmerz oft ein „Dauerschmerz“. Dieser Dauerschmerz ist eine Folge der gesteigerten Reaktionsbereitschaft der für Schmerz zuständigen Nerven. In dieser Situation reicht oft eine geringfügige Anspannung aus, um einen Schmerzreiz auszulösen. Experten sprechen von der Bildung des „Schmerzgedächtnisses“. Der Schmerzkranke befindet sich in der Phase der Chronifizierung (s. Abb. 4).

Wie wird aus Schmerz chonischer Schmerz
Abb. 4: (© Hans-Günter Nobis)

Wenn der Schmerzkranke aufgrund mangelnder Behandlungserfolge und einem Gefühl von Nutzlosigkeit mit sozialem oder beruflichem Rückzug reagiert oder aus Angst eine Schonhaltung entwickelt, was den körperlichen Zustand oft weiter verschlechtert, beginnt sich der Chronifizierungsprozess zu festigen. Nicht selten trauen sich Betroffene, insbesondere nach längeren Fehlzeiten, nicht mehr an den Arbeitsplatz zurück, was zu Ängsten bezüglich der finanziellen Zukunft führt. Aufkommende Selbstabwertung, verbunden mit Resignation, ist der Nährboden einer weiteren Krankheit - der „reaktive Depression“. 

 

Chronische Schmerzen unterliegen nicht nur einem körperlichen, sondern immer auch einem psychischen und sozialen Einfluss. Mal überwiegt die eine, mal die andere Seite.

 

Gefühle als Ursache von Schmerzen?

Schon der Volksmund spricht vom „schmerzhaften Verlust“ eines geliebten Menschen. Experten fanden, dass sowohl bei körperlichen Verletzungen als auch bei sozialem Verlusterleben die gleiche Hirnregion, die für die Schmerzintensität zuständig ist, aktiviert wird.

Auch „seelischer“ Schmerz ist somit „echt“.

Dies verdeutlicht das Beispiel einer Frau, die ihre beste Freundin durch Krebs verlor:

Schon Monate vor dem Tod hatte sie sich gegenüber der sterbenskranken Freundin, den Arbeitskollegen und gegenüber ihrer Familie „zusammengerissen“, d.h. die eigene Trauer und Angst „verdrängt“. Mehrere Wochen nach dem Tod der Freundin klagte sie nach einem Umbau des Kinderzimmers über Rückenschmerzen. Die üblichen Behandlungsmaßnahmen führten immer nur kurzfristig zu einer Besserung. Insgesamt wurden die Schmerzen zunehmend schlimmer und es wurde schon über eine Rückenoperation nachgedacht. Vor der OP sollte zunächst eine Reha Klarheit bringen. Als sie dort am Ende einer Sportstunde eine Entspannungsübung machte und ihr die Trainerin die Hand zur besseren Entspannung auf den Bauch legte, lösten sich ihre „unterdrückten“ Gefühle. Sie brach in nicht enden wollende Tränen aus. Sie hatte „losgelassen“ und erzählte in der Gesprächstherapie über ihre zurückgehaltenen Gefühle. Wenige Tage später waren ihre Schmerzen erstmals rückläufig und verschwanden nach weiteren Wochen ganz.

 

Das Beispiel zeigt, dass besonders Menschen mit einer hohen Selbstbeherrschung und den Einstellungen „Meine Gefühle gehen keinen was an“ oder „Ich will die anderen nicht belasten“ oder „Um des lieben Friedens willen“ die Tendenz haben, ihre Gefühle zu unterdrücken. Da alle Gefühle aber mit einer körperlichen Aktivierung einhergehen, die durch muskuläre Anspannung zurückgehalten wird, kann es über die Zeit passieren, dass es zu Schmerzen im Körper kommt, für die der behandelnde Arzt keine körperliche Ursache findet.

 

Autor:

Dipl.-Psych. Hans-Günter Nobis
Schmerzpsychotherapeut

Arbeitskreis „Patienteninformation“ der Deutschen Schmerzgesellschaft e.V.

Mit-Herausgeber des Patienten-Ratgebers „Schmerz – eine Herausforderung“


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Bild von kalhh auf Pixabay
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Bild von elnariz auf stock.adobe.com
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